Wie kann ,,Selbstbestimmung“ als über-persönlicher Entwicklungsprozess verstanden werden?

Verwendung des Begriffes

Der Begriff ,,Selbstbestimmung“ wird in verschiedenen Kontexten unterschiedlich gebraucht. In der Soziologie beschreibt Selbstbestimmung die Unabhängigkeit des Individuums von jeder Art der Fremdbestimmung, z. B. durch gesellschaftliche Zwänge oder staatliche Gewalt. In der Psychologie wiederum bezieht sich der Begriff auf die Kompetenz, einen eigenverantwortlichen Umgang mit dem persönlichen Innenleben zu pflegen. In der Philosophie beschreibt Selbstbestimmung z. B. die Unabhängigkeit des Individuums von den eigenen Trieben und Begierden1.

Zusammenfassen lässt sich sagen, dass sich der Begriff der Selbstbestimmung darauf bezieht, nach freiem Willen über das persönliche Leben eigenverantwortlich entscheiden zu können.

Doch welche Bedeutung gewinnt der vielfach verwendete Begriff wenn dieser zunehmen aufgeschlüsselt wird?

Der Begriff der Selbstbestimmung setzt sich aus zwei Substantiven zusammen, welche zunächst in einer ersten Differenzierung getrennt voneinander betrachtet werden können: ,,Selbst“ und ,,Bestimmung“.

Auch der Begriff des ,,Selbstes“ wird je nach Kontext uneinheitlich verwendet. Im Allgemeinen wird darunter die Identität oder Individualität eines Menschen verstanden2. Das Selbst wird als Zentrum der Persönlichkeit gesehen und verstärkt bzw. betont den Begriff des ,,Ich´s.“3 Das Selbst kann als Wesenskern oder Urgrund der Persönlichkeit definiert werden, welcher unabhängig von wechselnden Bewusstseinsinhalten oder Situationen besteht.4 Im Grunde beziehen sich die Definitionen auf das Persönliche, das Subjekt betreffende, Individuelle.

Doch ist das Selbst ein selbstverständlicher, von Anfang an bestehender Teil im Menschen?

Eckart Tolle schreibt dazu sinngemäß: Wenn wir nicht mehr vom Denken besessen sind sondern uns des Denkens bedienen, dann können wir unser eigenes, wahres Selbst erfahren. Dieses Selbst ist nicht die Persönlichkeit, welche wir nach außen zeigen, unser Beruf, unser äußeres Erscheinungsbild, oder die Rollen, die wir im Leben spielen. Es handelt sich bei unserem wahren Selbst also um etwas, das uns natürlicherweise zu eigen ist, was es jedoch erst noch zu entdecken, also regelrecht freizuräumen gilt„.

Hier findet eine erste Unterscheidung in dem Sinne statt, dass mit dem Selbst nicht nur die bestehende Persönlichkeit des Einzelnen gemeint ist, sondern dass das Selbst etwas beschreibt, das einem Prozess unterliegt.

Auch der Begriff der ,,Bestimmung“ kann sich auf verschiedene Schwerpunkte beziehen. Im allgemeinen und praktischen Sprachgebrauch wird unter Bestimmung das Treffen, das Festsetzen verstanden. Gleichzeitig kann der Begriff jedoch auch verstanden werden als Bestimmtsein, als Berufung verstanden werden.5

Heinz Grill verbindet diese Bestimmung mit dem Begriff des Lebensauftrages, welcher mit dem 6. Bewusstseinszentrum, oder auch cakra, in Verbindung steht:

,,Hier im Haupte und wenn man es körperlich lokalisiert, in dieser kleinen winzigen Drüse, die die verschiedensten Hormone auf den Körper aussendet, liegt ein geheimnisvoller Auftrag, den man als Lebensauftrag bezeichnen kann, begründet oder besser gesagt, hier wartet ein Entwicklungsprozess, der die wesentlichen Lebensqualitäten und moralischen Werte hervorbringen möchte.“ 6

Hervorzuheben ist hier der Aspekt des Entwicklungsprozesses. Der Lebensauftrag wird als etwas Bewegtes benannt, welcher sich jedoch nicht willkürlich entfaltet, sondern dessen Entfaltung an moralischen Werten orientiert ist. Diese moralischen Werte wiederum können mit Idealen in Verbindung gebracht werden. Diese entwickeln sich auch nicht willkürlich, sondern sind an klare und logische Gedanken gebunden, die bewusst in der Seele gepflegt werden und die als innere Orientierung dienen können.

Deutlich wird aus der bisherigen Auseinandersetzung mit dem Begriff, dass sowohl das Selbst, als auch die Bestimmung etwas mit Bewegtheit zu tun haben und nicht als in sich abgeschlossene Einheit betrachtet werden können.

An diesem Punkt macht es Sinn diesen Aspekt genauer zu betrachten und die Frage zu stellen, welche Bewegung, welche Aktivität genau hinter diesen Begriffen leben könnte.

Was geht der Selbstbestimmung voraus?

Um eine Selbstbestimmte Entscheidung, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, braucht es zunächst eine gute Unterscheidungsbildung darüber, was aus dem ,,Selbst“, aus einer bewussten Entscheidung, einem gewählten Ideal heraus getroffen wird und was aus anderen, unbewussten Motiven motiviert ist. Diese unbewussten Motive wiederum können eine erste Differenzierung in der Unterscheidung von Innen und Außen finden:

Unbewusste Motive, welche durch Fremdeinflüsse wie Suggestionen, Manipulationen oder Lügen unbemerkt aufgenommen und adaptiert werden prägen gewisse Glaubenssätze und führen zu einer Identifikation mit übernommenen Formeln die dann unbemerkt das individuelle Denken, Fühlen und auch den Willen prägen. Aber auch innerpsychische Prozesse wie Gewohnheiten, Ängste und andere Determinationen die sich womöglich jahrelang bewährt haben und eine gewisse Sicherheit vermitteln, beeinflussen das Bewusstsein. Dadurch werden gewisse innere Strukturen immer wieder reproduziert und erschweren dem Individuum einen unvoreingenommenen, entwicklungsfreudigen Prozess, welcher sich unter anderem durch die Loslösung von mitgebrachten, übernommenen Denk,- Gefühls- und Verhaltensmustern äußert. Dieser Loslösung von gesellschaftlichen als auch persönlichen Determinationen folgt schließlich die Neuorientierung an einem frei gewählten Ideal, in dem sowohl ein persönlicher als auch ein sozialer, zwischenmenschlicher Wert gesehen wird.

Die Fähigkeit der Unterscheidungsfähigkeit kann als eine seelische Qualität verstanden werden, die eine differenzierte Entwicklung der Seelenkräfte fordert.

Durch die Entwicklung dieser zusammenhängenden Kräfte, welche mit Denken, Fühlen und Wollen benannt werden können, besteht die Möglichkeit, alte Muster und Strukturen in einem ersten Schritt zu bemerken und folglich zu transformieren. Ein gewähltes Ideal, an dem man sich innerlich und auch im sozialen Leben orientieren möchte, stellt eine wichtige Voraussetzung dar, um Gewohnheiten oder Manipulationen zu bemerken, zu reflektieren und dann aus dieser bewusst gewählten Entscheidung zu handeln. Das Ideal dient somit als innere Orientierung und ermöglicht die Neuordnung der Seelenkräfte. So kann das Leben zunehmend in eine vom Bewusstsein, am Ideal orientierte Führung gelangen die nicht bei der persönlichen Entwicklung stehen bleibt, sondern auch darüber hinaus im sozialen Miteinander seine Umsetzung findet und damit der Menschheit zugute kommt.

1https://www.duden.de/rechtschreibung/Selbstbestimmung

2https://www.duden.de/rechtschreibung/Selbst

3https://de.wikipedia.org/wiki/Selbst

4https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/selbst/13845

5https://www.duden.de/rechtschreibung/Bestimmung

6H. Grill, Kosmos und Mensch, Lammers Koll, 2015